Freitag, 25. Februar 2011

Mittelalter 2.0



In Tunesien fing es an, in Ägypten ging es weiter und nun hat es das Land erwischt, dessen Herrscher in den letzten Jahren vom "irren Terror-Oberst" (BILD-Zeitung ca. 1986) zum weltweit umworbenen Öl-Exzentriker geworden war: Libyen. Sicher, der Operettendiktator dort galt immer noch als schwierig, denn er wollte nicht nur die Schweiz aus persönlichen Gründen bombardieren, sondern hielt auch bulgarische Krankenschwestern monatelang gefangen, weil er sie verdächtigte, AIDS in seinem Ölparadies absichtlich verbreitet zu haben. Aber Berlusconi küsste ihm trotzdem die Hand und im Gegenzug durfte Ghaddafi im letzten Jahr eine Vorlesung aus seinem "Grünen Buch" vor zweihundert handverlesenen Models in Rom halten, in deren Anschluss direkt mehrere der Schönheiten zum Islam konvertierten. Die Weltpresse lachte, aber das Ganze hatte keinen politischen Wert, sondern wurde als Klamauk auf einer Stufe mit Bunga Bunga und der Frage nach den Schönheitsoperationen des italienischen Neo-Duce verhandelt. 

Jetzt ist das Politische nach Libyen zurückgekehrt. Tote Menschen liefern nicht den Stoff für Anekdoten in der Rubrik "Vermischtes", sie erinnern daran, daß jenseits des Mittelmeeres jahrelang eine große Portion sozialer Sprengstoff angehäuft wurde. Bemerkenswert daran ist (wie in Tunesien und Ägypten), das hier eine ganze post-koloniale Ära zu Ende geht. Sowohl Ghaddafi als auch andere arabische Führer bezogen ihre Reputation aus den schmerzhaften Abnabelungen von den ehemaligen Kolonialmächten und ihren korrupten Statthaltern, sie einten ihre aus Stammesverbänden bestehenden Gesellschaften in den oft absurden Grenzen der Kolonialzeit unter dem Banner des (pan)arabischen Nationalismus. Das ging lange gut und die Ideologie war der Kit, der soziale und wirtschaftliche Probleme verdeckte. Wenn Ghaddafi in der jetzigen Situation die Aufstände wahlweise als Werk von westlichen Ausländern oder von Al Quaida-Anhängern denunziert, dann schwingt darin noch die Wagenburgmentalität dieses Nationalismus mit. Das Böse kommt immer von außen.

Doch das Volk fällt auf diesen Popanz nicht mehr herein. Es hat genug von Ideologie und will stattdessen eine wirtschaftliche Perspektive und Wohlstand. Ironischerweise ist dieser Wohlstand ausgerechnet im reichen Libyen nicht vorhanden, weil er zuverlässig  in den Reihen einer korrupten Führungschicht versickerte. In gewisser Weise sind die Libyer, Tunesier und Ägypter wie die DDR-Bürger 1989: Sie tauschen gerne und freiwillig ihre lahm und unattraktiv gewordene Ideologie gegen das vermeintliche Heilsversprechen des Konsums. Denn auch die DDR-Bürger wollten mehrheitlich wohl nicht den Kapitalismus als Ideologie - sie wollten Bananen und Marlboros. Das Zeitalter der Ideologien war unmerklich zu Ende gegangen, was blieb, war das Verlangen nach einem besseren Leben.

In solchen Zeiten besinnen sich die Bewohner Nordafrikas wieder auf Strukturen, die ihnen schon zu Zeiten der libyschen Monarchie ein Mindestmaß an Sicherheit gewährten: Die Familie und den Stammesverband. Ghaddafis Macht schwindet, weil er es nicht mehr schafft, Stammesinteressen glaubhaft an sich zu binden.

Somit kehrt nicht nur in Libyen  eine Kategorie auf die politische Bühne zurück, die von westlichen Fachleuten gerne als archaisch und vorgestrig angesehen wird. Eine Stammesgesellschaft lässt sich nun einmal schlecht mit den  berühmten "westlichen Werten" vereinbaren. 

Doch es nützt nichts, die Augen zu verschliessen - das Mittelalter ist im 21. Jahrhundert eine feste Größe in innerstaatlichen Strukturen: Afghanistan, Irak, Nordafrika und - Russland. In einem lesenswerten Artikel erklärt der Professor an der Moscow School Of Economics, Wladislaw Inozemtsev, warum das moderne Russland wie im Mittelalter nach den Prinzipien des Feudalismus funktioniert. Von einer Stammesgesellschaft kann man im Lande Putins zwar nicht sprechen, aber das feudale Prinzip der Loyalität einem Mächtigen gegenüber, der im Gegenzug für wirtschaftlichen oder politischen Schutz sorgt, ist unter Putin höchst aktuell. Und auch die Herrschaft der Inkompetenten, die mit diesem System in Russland zwangsläufig verbunden ist, lässt sich so erklären.

Um die Welt zu begreifen, sollten die Think Tanks der westlichen Regierungen vielleicht weniger Politologen einstellen und sich stattdessen nach Historikern umschauen, deren Schwerpunkt das europäische Mittelalter ist. Dann kommt der nächste Sturm auf die Bastille vielleicht nicht ganz so überraschend.

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